05. Januar 2021

Der letzte Akt des amerikanischen Wahldramas von 2020/2021 findet im Bundesstaat Georgia statt. Nach Trumps immer bizarrer werdenden Vorwürfen von Wahlbetrug sind die Wahlhelfer besonders motiviert, dass der Tag möglichst reibungslos verläuft. 

Von Katja Ridderbusch, Atlanta

Es gibt wenige Dinge, die Demokraten und Republikaner an diesem Dienstag in Georgia gemeinsam hatten. Eines davon war der Wunsch, dass der Wahlkampf, der für den Rest der USA bereits vor zwei Monaten zum Abschluss kam, endlich, endlich auch in Georgia vorbei sein möge: das Trommelfeuer von TV-Spots, die nicht abreißenden Robocalls, das tägliche Klopfen der Wahlkämpfer an die Haustüren, die Flut von Flyern und vermeintlich handgeschriebenen Postkarten. Er sei jedenfalls froh „dass der Wahlkampf jetzt zu Ende ist“, sagt Steve Snipes, nachdem er seine Stimme abgegeben hat, lacht kurz und atmet tief.

Am Dienstag fand der letzte Akt des amerikanischen Wahldramas von 2020/2021 statt. In Georgia mussten sich die beiden republikanischen Senatoren David Perdue und Kelly Loeffler in einer Stichwahl ihren demokratischen Herausforderern Jon Ossoff und Raphael Warnock stellen. 

Ossoff ist ein junger weißer Filmproduzent aus Atlanta; Warnock ist Afroamerikaner und Pastor der Ebenezer Baptist Church, jener Baptistenkirche, in der einst der Bürgerrechtler Martin Luther King predigte. Das Wahlergebnis entscheidet darüber, welche Partei künftig die Kontrolle im US-Senat gewinnt – und wie effizient Joe Biden als Präsident regieren kann.

Seit den Präsidentschaftswahlen im November gilt Georgia als politischer Hotspot, seit der Staat zum ersten Mal seit 28 Jahren für einen demokratischen Präsidentschaftskandidaten stimmte und damit zum Swing State wurde. Präsident Donald Trump und seine Getreuen zweifelte das Ergebnis an, es gab zwei Nachzählungen, eine manuelle und eine maschinelle, sowie eine offizielle Wahlprüfung. Am Ergebnis änderte das nichts – ebenso wenig wie an Trumps Behauptung, er habe die Wahlen in Georgia gewonnen.

Obwohl die ersten Zahlen am Dienstag nach Schließung der Wahllokale zügig einliefen, rechneten Wahlbeobachter erst im Laufe des Mittwochs mit einem Ergebnis. 

So laut und schrill und schmutzig der Wahlkampf in Georgia bis zum letzten Tag geführt wurde, so ruhig, fast verdächtig unaufgeregt verlief der Wahltag selbst. 

06:30 Uhr, Pittman Park Recreation Center im Südwesten von Atlanta, eine halbe Stunde vor Öffnung der Wahllokale. Das Gemeindezentrum grenzt an die Eisenbahntrassen der Norfolk Southern Railroad, einer großen Güterzuglinie, deren Gleise sich quer durch die Stadt ziehen. Pittman Park liegt in einem vornehmlich schwarzen und vornehmlich armen Wohnviertel; bei vielen der kleinen Holzhäuser sind die Fenster mit Wellblech vernagelt, in den Vorgärten stehen Autowracks, Müll quillt aus umgekippten Tonnen. Es ist stockfinster, die meisten Straßenlaternen sind ausgebrannt.

An früheren Wahltagen reihte sich um diese Zeit schon eine lange Schlange vor dem Eingang, doch an diesem Morgen ist es leer. Der Manager des Wahllokals ist nicht überrascht; die meisten Leute in diesem Bezirk seien bereits in der zweiten Dezemberhälfte zur Frühwahl gegangen oder hätten per Briefwahl abgestimmt, sagt er. Für heute erwarte er „vielleicht 200 Wähler, wenn es hochkommt“. 

„Wir sind vorbereitet“

Gemeinsam mit gut zehn Wahlhelfern, Technikern und Sicherheitsleuten wartet er an diesem Morgen geduldig auf Wähler. Und er betont: „Wir sind vorbereitet.“ Nach den immer bizarrer werdenden Vorwürfen von Wahlbetrug, Wahlmanipulation und Wahldiebstahl, mit denen Trump seit dem 3. November die Regierung des Staates Georgia täglich bombardiert, sind Wahlleiter und Wahlhelfer besonders motiviert, dass der Tag möglichst reibungslos verläuft.

Susana Duran ist an diesem 5. Januar die erste Wählerin im Pittman Park Recreation Center. Die junge Latina trägt einen quietschgelben Kapuzenpulli unter ihrer Daunenjacke, gegen die bittere Kälte an diesem Morgen. Eigentlich wollte sie zur Frühwahl gehen, sagt sie, „aber ich habe es nicht geschafft, ich hatte zu viel Arbeit“. Und zwar mit dem Wahlkampf. 

Susana  studiert Wirtschaftswissenschaften an der Georgia State University und hilft außerdem bei der Mobilisierung von lateinamerikanischen Wählern in Georgia. Sie hofft, „dass die richtigen Kandidaten gewinnen“, sagt sie und meint damit die Demokraten Ossoff und Warnock. Sie ist zuversichtlich – „schließlich hat eine Rekordzahl von Wählern bereits abgestimmt, und das ist ein gutes Zeichen“.

Tatsächlich nutzten gut drei Millionen Wähler in Georgia die Möglichkeit der Frühwahl – mehr als je zuvor bei Stichwahlen in dem Südstaat. Wie schon während der Präsidentschaftswahl, so werde auch bei der Stichwahl die Zahl der Briefwähler wegen der Corona-Pandemie hoch sein, erwarten Wahlleiter in Georgia. Nach bisherigen Statistiken stimmen Frühwähler und Briefwähler mehrheitlich für die Demokraten. Republikaner neigen traditionell dazu, am Wahltag selbst an die Urnen zu gehen. 

Und so forderte Trump bei seinem Wahlkampfauftritt am Vorabend der Stichwahl in der Kleinstadt Dalton in Nordwest-Georgia seine Anhänger auf, die Wahllokale des Bundesstaates „mit einer historischen Gezeitenwelle von Wählern zu überfluten“.

Doch statt Flutwellen glichen die Schlangen vor den Wahllokalen am Dienstag eher einem sanften und stetigen Plätschern. Zum Beispiel vor der Johnson Ferry Baptist Church in Marietta, eine Kleinstadt nördlich von Atlanta und traditionell republikanische Hochburg. Die Baptistenkirche ist ein wuchtiger Backsteinbau mit großem Parkplatz und manikürten Beten aus winterlichen Blumen und Sträuchern. An den Laternen hängt noch die Weihnachtsdekoration.

Es ist elf Uhr am Vormittag, als Nell und Steve Snipes aus dem Wahllokal kommen. Sie hätten kaum warten müssen, sagt Nell, eine elegante Frau mit Pagenkopf, schwarzer Gesichtsmaske und lachenden Augen. Sie hält noch ihren Ausweis und den „I’m a Georgia Voter“-Sticker in der Hand, den Wahlhelfer jedem Wähler nach der Stimmabgabe in die Hand drücken.

„Wählen ist ein Privileg“

Frühwahl oder gar Briefwahl seien keine Optionen für sie und ihren Mann gewesen, sagt sie fest. „Weil wir dem Wahlprozess nicht recht trauen“, erklärt Steve, groß, weißes Haar, marineblaue Windjacke. Sie und ihr Mann seien „lebenslange, stolze Republikaner“, setzt Nell hinzu. „Wir wollen keinen Demokraten aus Georgia im Senat sehen.“ Trotz Trumps Zetern über Wahldiebstahl und trotz ihrer eigenen Zweifel an der Integrität des Wahlprozesses hätten sie keinen Moment mit dem Gedanken gespielt, nicht wählen zu gehen, sagt Nell weiter. „Wählen ist ein Privileg.“ Sie habe noch nie in ihrem Leben eine Wahl verpasst.

In der kurzen Schlange vor der Baptistenkirche in Marietta warten auch Megan, Ken und Katie Freedman, die als Familie gekommen sind. Für Katie war die Wahl im November ihre erste Präsidentschaftswahl – und sie findet, „es hat einfach was, am eigentlichen Wahltag wählen zu gehen“. Für ihre Eltern waren es eher praktische Überlegungen, heute zu wählen, denn bei den Frühwahlen „waren die Schlangen sehr viel länger“, sagt Megan. 

Die Freedmans wollen für die demokratischen Kandidaten stimmen und sind damit vermutlich in der Minderheit unter den Wartenden. Es sei immer wichtig zu wählen, sagt Ken, aber bei diesen Wahlen ist es wichtiger denn je. „Diesmal zählt wirklich jede einzelne Stimme.“ Die letzten Umfragen vor den Wahlen sahen die demokratischen Herausforderer knapp vor den republikanischen Amtsinhabern.

Die durchschnittliche Wartezeit in den Wahllokalen betrug während des gesamten Wahltags etwa eine Minute, heißt es in einer Erklärung des für die Wahlen zuständigen republikanischen Staatssekretärs von Georgia, Brad Raffensperger. Es habe vereinzelte technische Pannen bei Wahlcomputern und Scannern gegeben, aber insgesamt sei die Wahl glatt verlaufen. Einige Wahllokale hatten im Vorfeld Drohungen erhalten und wurden von Polizisten oder Agenten der staatlichen Sicherheitsbehörde GBI geschützt, doch es blieb ruhig. 

Brookhaven, ein Stadtteil wenige Kilometer nördlich von Atlantas Nobelviertel Buckhead. Es ist 17 Uhr, zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale. Vor der University Baptist Church, einem schmucklosen Bau an einer belebten Straße mit Geschäften, Restaurants und Apartments, warten etwa 15 Wähler in der Schlange.

Auf dem Bürgersteig vor dem Wahllokal stehen Ally und Dave. Weil die beiden mit ihrer vier Monate alten Tochter im Kinderwagen und ihrem Golden Retriever an der Leine unterwegs sind, gehen sie nacheinander zum Wählen. Dave stellt sich als Erster an. Die beiden möchten ihren Nachnamen nicht nennen – „wegen der elenden Politik hat es schon so viel Streit und Stress in meiner Familie gegeben“, sagt Ally. 

Eigentlich ist die junge Frau mit blondem Zopf und roter Baseballkappe Republikanerin, aber sie habe Trump im November einfach nicht mehr wählen können. Heute, bei der Stichwahl, will sie ihre Stimme splitten, will den Demokraten Warnock und den Republikaner Perdue wählen – „wegen der Balance“. 

Hält sie die Vorwürfe von Wahlbetrug, die Trump, aber auch die beiden republikanischen Senatoren von Georgia erheben, für gerechtfertigt? Sie zuckt mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, wirklich.“ Aber eins wisse sie genau: Dass sie erleichtert ist, „wenn ich ab heute Abend keine SMS mehr von dem einen oder anderen Wahlkämpfer bekomme. Wenn wir für eine Weile nicht mehr von Politik reden.“

© WeltN24 | Katja Ridderbusch