01. Januar 2020

Georgia entscheidet am 5. Januar über die Zukunft der USA: Siegen bei der Stichwahl zum Senat die Demokraten, dann kontrollieren sie beide Kammern des Kongreses. Die Republikaner sind durch Kämpfe zwischen Trump-Anhängern und moderaten Traditionalisten gespalten und geschwächt. Besuch auf dem heißesten Schlachtfeld der US-Politik. 

Von Katja Ridderbusch

Er müsse künftig vorsichtiger sein mit dem, was er sich wünsche, sagt Charles „Chuck“ Clay und lacht. Er schaut aus der großen Fensterfront im 29. Stock eines Büroturms in Downtown Atlanta über die Skyline seiner Stadt und in die Straßenflucht tief unten. Normalerweise drängen sich hier hupende Autos und eilende Menschen, aber an diesem Dezembertag scheint die Stadt entleert. Es ist kalt geworden, Dampf quillt aus den Gullydeckeln und kondensiert in der klaren Luft, ein paar Obdachlose kauern vor den Hauseingängen.

Clay wünscht sich seit Jahrzehnten – und ganz besonders, als er von 1988 bis 2004 als Senator für die Republikanische Partei im Landesparlament von Georgia saß –, dass sein Heimatstaat einmal wahlentscheidend sein werde, ein Battleground State, umkämpft und umworben. „Das haben wir jetzt“, sagt er. „Aber anders, als wir es wollten.“ Schwieriger. Schmutziger.

Am Ende des Wahljahres 2020 ist Georgia zum politischen Hotspot geworden. Der Staat stimmte nach 28 Jahren republikanischer Dominanz bei den Präsidentschaftswahlen wieder für einen Demokraten. Seither ist das politische Klima in Georgia geprägt von widerstreitenden Botschaften, alternativen Wirklichkeiten und bizarren Parallelwelten. 

In diesem Klima geht es am 5. Januar in die Stichwahl für die beiden Sitze Georgias im US-Senat in Washington. Das Ergebnis entscheidet über den Kurs der US-Politik in den kommenden Jahren. Gelingt es den demokratischen Herausforderern Jon Ossoff und Raphael Warnock, die beiden amtierenden republikanischen Senatoren David Perdue und Kelly Loeffler zu entmachten, gewinnen die Demokraten die Kontrolle im Senat – zusätzlich zur Mehrheit im Repräsentantenhaus.

Der Showdown in Georgia ist längst zu einer Schlacht mit doppeltem Frontverlauf geworden: Demokraten gegen Republikaner. Und Republikaner gegen Republikaner. Der Zorn des scheidenden Präsidenten Donald Trump richtet sich auf die republikanische Führungsriege von Georgia, die trotz dreimaliger Stimmenauszählung keinen Sieg für den Präsidenten produziert hatte. Am Mittwoch forderte Trump via Twitter den Rücktritt von Gouverneur Brian Kemp, zuvor hatte er Staatssekretär Brad Raffensperger, der für die Durchführung der Wahlen zuständig ist, als „Feind des Volkes“ beschimpft.

Clay war selbst zu lange in der Politik, als dass ihm Grabenkämpfe und Schlammschlachten fremd wären. Der 69-Jährige – drahtig, grauer Bart, flinke Bewegungen und wild gemusterte Krawatte – entstammt einer Familie von Politikern und Militärs. Sein Urgroßvater vertrat den Bundesstaat Georgia als Senator im US-Kongress; sein Großvater war General Lucius D. Clay, der Militärkommandeur der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland, der die Berliner Luftbrücke 1948/49 organisierte und später zu einem der engsten Berater von Präsident Dwight D. Eisenhower wurde.

„Politik ist Kontaktsport“, sagt Clay, das habe er in seinen Jahren im Senat von Georgia und später als Vorsitzender der Republikanischen Partei in seinem Bundesstaat gelernt. „Aber in der Politik geht es auch darum, Wahlen zu gewinnen.“ 

Er fürchtet, dass all das Geschrei und Geraune über Wahlbetrug und Wahldiebstahl für die Republikaner zum Bumerang werden könnte, zur „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“. Dass mehr und mehr republikanische Wähler in Georgia, ob aus Wut oder Frust, mit dem Gedanken spielten, die Stichwahlen zu boykottieren.

Deshalb appelliert Clay: „Leute, hört mit dem Nonsens auf.“ Die Präsidentschaftswahlen seien vorbei. „Wir können die Uhr nicht zurückdrehen. Wir müssen jetzt nach vorn schauen.“ Vorn, das ist zunächst der 5. Januar. Und da zähle jede einzelne Stimme, betont er. „Und wenn ihr es nicht schafft, als Republikaner in diesen Zeiten an die Wahlurnen zu gehen, dann kann ich nur sagen: Schämt euch!“

Für die Basis ist Trump noch immer ein Held

Charles Bullock hat Zweifel, ob die Mahnungen pragmatischer Republikaner wie Clay bei der Parteibasis Gehör finden. Zwar sieht der Politikwissenschaftler an der Georgia State University die GOP – die Grand Old Party, wie die Republikaner auch genannt werden – in einem leichten Vorteil. Republikaner hätten bei Stichwahlen in Georgia bislang immer mehr Wähler mobilisiert als die Demokraten. „Aber die Spaltung der Partei ist so tief, dass ich mich nicht wundern würde, wenn sich die Republikaner diesmal selbst ins Knie schießen.“ 

Selbst nach der Bestätigung von Joe Bidens Sieg durch das Wahlleutegremium dürften einige republikanische Amtsträger in den USA und vor allem in Georgia zumindest rhetorisch weiter an dem Narrativ festhalten, die Wahlen seien gestohlen worden. Aber warum? „Weil sie nicht auf Trumps Twitter-Liste landen wollen“, sagt Bullock, weil sie den Zorn des Mannes fürchten, der bei der Basis noch immer enorm populär ist. „Weil Trump für viele Wähler ein Held ist.“

Für Leute wie Scott zum Beispiel, der seinen Nachnamen nicht veröffentlicht sehen will. Der 64-Jährige arbeitet als Pilot bei einer US-Airline, ist verheiratet mit einer Krankenschwester, hat zwei erwachsene Kinder, ein Haus in einem Vorort von Atlanta, eine Ferienresidenz in Florida, ein kleines Privatflugzeug und einen Berg Schulden.

Wir treffen uns in einem Coffeeshop. Scott ist groß und sonnengebräunt. Er hat sehr weiße Zähne und trägt eine Baseballkappe. An Trump mag er vor allem, „dass er kein Politiker ist. Er ist ein CEO, und er führt das Land, als wäre es ein Unternehmen.“ 

Scott ist ein umgänglicher Mann, er lacht viel. Aber Politiker kann er nicht ausstehen. Während unseres Gesprächs sagt er immer wieder Dinge wie „Politiker sind Heuchler, egal ob Demokraten oder Republikaner“. Und: „Wenn wir alle Politiker an die Wand stellen und erschießen würden, hätten wir ein ziemlich anständiges Land.“

Scott ist überzeugt: Bei den Präsidentschaftswahlen sei vieles nicht mit rechten Dingen zugegangen; vor allem bei den Briefwahlstimmen habe es Betrug gegeben. Trotzdem will er am 5. Januar zur Stichwahl gehen. Um das Schlimmste zu verhindern, sagt er. 

Das wäre für ihn, wenn die Demokraten die Regierung und beide Kammern des Kongresses kontrollierten und ihre politischen Ziele ohne nennenswerten Widerstand durchsetzen könnten. „Unsere Verfassungsväter haben gewollt, dass das Regierungsgeschäft langsam verläuft“, sagt er. „Damit jedes Detail einer Entscheidung genau und von allen Seiten bedacht werden kann.“

Joe Biden, findet Scott, sei ein seniler Greis und eine Marionette der radikalen Linken. „Klar, er ist ein netter Typ. Aber ich will keinen netten Typen als Präsidenten. Ich will einen, der sagt, wie es ist, knallhart.“ Die künftige Vizepräsidentin Kamala Harrishält er für „eine gefährliche Frau“. Scott fürchtet, dass unter Biden und Harris der Ausverkauf Amerikas beginnt, die Steuern erhöht werden und seine Kinder in diesem neuen Amerika der Immigranten, Kommunisten und Atheisten keine Chance mehr haben. 

Scotts ganze Hoffnung ruht nun auf dem Jahr 2024. Wenn Biden nur irgendetwas sage oder tue, was Trump nicht gefalle – und das steht zu erwarten –, „dann wird Trump dafür sorgen, dass es alle erfahren“. Die Medien würden darüber berichten, weil der Name Trump ein Quotenmagnet sei. „Und dann wird er Biden zerstören.“

Wenn sich Trump entscheide, für die Wahlen in vier Jahren zu kandidieren, werde er populärer sein als je zuvor, prophezeit Scott. Und seine Anhänger in Georgia und anderswo würden es nicht zulassen, dass die Wahlen noch einmal gestohlen werden. 

Da würden die bewaffneten Milizen vor den Wahllokalen stehen und den Amtsgebäuden, wo die Stimmen ausgezählt werden. „Die sagen dann, legt euch nicht mit uns an, wir sind Trumps Bodyguards.“ Er nestelt an seiner Baseballkappe. „Das wird hässlich sein, es wird Anarchie geben.“

Republikaner müssen an ihrer Rhetorik arbeiten

Bedauerlicherweise könnte Scott mit seiner Vorhersage sogar richtig liegen, meint Politikwissenschaftler Bullock. „Wenn die durchschnittlichen Wähler beginnen, die Integrität des Wahlprozesses selbst anzuzweifeln, dann wird es gefährlich.“ Im schlimmsten Fall greife sich dann ein geistig Verwirrter eine Waffe mit dem Argument, er tue seine patriotische Pflicht, indem er die Wahlen sicherer mache. „Das sind sehr verstörende Aussichten.“

Chuck Clay reibt sich mit den Händen durchs Gesicht. Ja, er sei besorgt über die Zukunft seiner Partei. Aber der Eindruck, dass die Republikaner im Chaos versinkenund die Partei komplett kollabiert ist – „der stimmt so nicht“. Streit und Spaltung gehörten zur politischen Kultur des Landes, sagt er, schon immer, sie dienten der Klärung und Erneuerung. 

Allerdings müssten die Republikaner an ihrer Rhetorik arbeiten, räumt Clay ein, ob mit oder ohne Trump. „Wir klingen einfach so böse, so bitter, so gemein.“ Er wiegt mit dem Kopf. „Mit einem solchen Ton gewinnt man auf Sicht keine Wahlen.“ Und manchmal verflucht er in diesen Tagen auch seinen lang gehegten Wunsch, dass sich in seinem Heimatstaat Georgia einmal das politische Schicksal Amerikas entscheiden werde.

© WeltN24 | Katja Ridderbusch