23. Oktober 2022

Bislang galt die Psychotherapie schlimmstenfalls als wirkungslos. Jetzt zeigt die Forschung: Mit der Behandlung gehen ernsthafte Risiken einher. Etliche Patienten erleben Nebenwirkungen – bis hin zur Verschlechterung der mentalen Gesundheit. 

Von Katja Ridderbusch

Es steht schlecht um die Psyche der Bürger – das ist eine Sorge, die Experten wie Politiker in Europa und den Vereinigten Staaten umtreibt. Massimiliano Mascherini von Eurofound, der EU-Agentur für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, spricht gar von einer „parallelen Pandemie der seelischen Gesundheit“. Und US-Präsident Joe Biden erklärte jüngst, mentale Gesundheit habe höchste Priorität. Seine Regierung werde 300 Millionen Dollar für psychosoziale Programme bereitstellen.

Der Grund dafür: In den USA leidet jeder Fünfte an einer mentalen Erkrankung. Aber auch hierzulande suchten schon vor der Pandemie mehr als jede zehnte Frau und 8,1 Prozent der Männer einen Psychologen oder Psychiater auf. Das geht aus Daten des Robert-Koch-Instituts hervor.

Die Corona-Krise hat den Trend noch verstärkt: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation ist die Zahl der Menschen, die bei denen Angststörungen und Depressionen diagnostiziert werden, seit Beginn der Pandemie weltweit um 25 Prozent gestiegen. Die Folge: Mehr Menschen suchen professionelle Hilfe. „Der Bedarf an Psychotherapie ist auch im dritten Pandemiejahr unverändert hoch“, sagt Gebhard Hentschel, Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV). Die Anzahl der Patientenanfragen habe im Sommer 2022 weiterhin um etwa 40 Prozent höher gelegen als vor Corona. Wartelisten der Praxen und Kliniken sind entsprechend lang.

Bislang galt der eklatante Mangel an Behandlungsplätzen als größtes Manko. Nun rückt die Forschung ein Problem in den Fokus, das bislang unter dem Radar lief: Mit einer Psychotherapie gehen – genau wie bei anderen medizinischen Interventionen – Risiken einher. „Etwa zehn Prozent der Psychotherapiepatienten erfahren schwerwiegende und länger andauernde Nebenwirkungen“, sagt Michael Linden,Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut an der Charité in Berlin.

Einige Patienten entwickeln gar neue und tiefere Ängste, es entstehen Abhängigkeiten und Konflikte, bisweilen bricht das soziale Gefüge auseinander – es geht ihnen schlechter als zuvor, im seltenen Fall ende die Therapie im Suizid. „Das ist nicht unerheblich im Vergleich zur Arzneimitteltherapie,“ so Linden.

Messbare Wirkung oder Placebo-Effekt?

Nebenwirkungen der Psychotherapie – das Thema wird zwar seit Langem in der Fachwelt diskutiert, „aber in systematischer und substanzieller Weise gibt es die Debatte erst seit rund fünf Jahren“, erklärt Linden. Mit seinem Kollegen Bernhard Strauß von der Universität Jena und einer kleinen Gruppe von Psychologen und Psychotherapeuten gilt Linden auf dem Gebiet als Pionier in Deutschland. Das Thema sei noch nicht bei jedem Therapeuten angekommen, ebenso wenig wie in der breiten Öffentlichkeit und beim Gesetzgeber, sagt er. „Und auch in der Wissenschaft ist noch viel zu tun.“ Immerhin gibt es mittlerweile eine Reihe von Studien – in Europa, in den USA, in Australien.

Die Debatte über Wirkung – und Nebenwirkungen – der Psychotherapie sei fast so alt wie die Disziplin selbst, sagt Gary Burlingame von der Brigham Young University im US-Bundesstaat Utah – „und der Streit darüber, ob Psychotherapie nichts bewirke außer einem Placebo-Effekt“.

Burlingame entwickelte in den frühen 1990er-Jahren gemeinsam mit seinem Kollegen Michael Lambert einen Fragenkatalog für Patienten, mit dessen Hilfe sich die Wirksamkeit einer Therapie empirisch messen lässt – „die Vitalzeichen der mentalen Gesundheit“, nennt er das. Der sogenannte OQ-Katalog gehört heute zum Standardinstrument von Psychotherapeuten in den USA.

Zwar stehe die Wirksamkeit von Psychotherapien mittlerweile außer Zweifel, sagt Moria Smoski, klinische Psychologin an der Duke University in North Carolina. „Aber mit der Akzeptanz kommt auch der Anspruch der Fachwelt, die Psychotherapie stärker nach einem medizinischen Modell zu bewerten“ – in klinischen Studien die Wirkungsmechanismen, Risiken, Neben- und Wechselwirkungen zu untersuchen.

Dabei werde deutlich: Das gängige Stereotyp „Reden schadet nicht“ stimme so nicht. „Wer sich einer Psychotherapie unterzieht, wird sich unwohl fühlen“, erklärt Smoski. „Schließlich geht es um schwere, schmerzhafte, belastende Dinge, um das Eintauchen in Erinnerungen, die man versucht zu vermeiden.“

Um Nebenwirkungen in der Psychotherapie überhaupt zu identifizieren und zu klassifizieren, brauche es zunächst eine klare Definition, sagt der Berliner Psychotherapeut Linden. „In der Medizin allgemein und auch in der Psychotherapie gilt: Nebenwirkungen sind negative und unerwünschte Begleitwirkungen einer korrekt durchgeführten Behandlung.“ Dazu gehören ausdrücklich nicht Therapiefehler wie eine dominante oder herablassende Haltung des Therapeuten oder die Bagatellisierung von Suizidankündigungen. Auch schwere Verstöße wie sexueller Missbrauch von Patienten, die strafrechtlich geahndet werden, zählen nicht zu Nebenwirkungen.

Panikattacken in offenen Räumen

Die unerwünschten Begleiterscheinungen variieren je nach Psychotherapieverfahren, sagt Linden – sei es die Verhaltenstherapie; die psychodynamische Therapie, die sich aus der Psychoanalyse entwickelt hat; oder die systemische Psychotherapie, die sich auf den sozialen Kontext fokussiert. So könne eine im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie durchgeführte Expositionsbehandlung zur Überwindung einer Angststörung, bei der der Therapeut den Patienten schrittweise mit seinen Ängsten konfrontiert, auch schiefgehen.

Linden erinnert sich an einen Patienten mit Platzangst. Anders als bei der Klaustrophobie, der Angst vor Enge, hatte dieser Patient Panikattacken in offenen Räumen, zog sich zunehmend in seine Wohnung zurück. Im Verlauf der Behandlung lernte er, kurze Spaziergänge bis zur nächsten Straßenecke zu machen. Doch bei einer Autofahrt mit seinem Therapeuten erlitt er aus unerfindlichen Gründen eine Panikattacke, wagte sich fortan gar nicht mehr aus dem Haus und brach die Therapie ab.

Eine andere Nebenwirkung ist die Entstehung von falschen Erinnerungen. Das könne bereits beim Anamnesegespräch passieren, sagt Linden. Der Therapeut fragt nach der Kindheit, dem Verhältnis zu den Eltern – und Patienten, auf der Suche nach einer Erklärung für ihren Zustand und möglicherweise empfänglich für Suggestion, erinnern sich an Dinge, die gar nicht stattgefunden haben, zum Beispiel: sexueller Missbrauch. Vor allem in den 90er-Jahren gab es mehrere False-Memory-Fälle in den USA. Hierzulande berät der Verein False Memory Deutschland Menschen, die aufgrund einer Pseudoerinnerung des Missbrauchs beschuldigt werden.

Vor allem die Behandlung von schweren Traumata wie einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sei nicht ohne Risiko, erklärt Psychotherapeutin Smoski. „Eine andauernde Konfrontation mit den traumatisierenden Erlebnissen kann bisweilen extreme Reaktionen triggern.“

In schweren Fällen entwickeln Patienten eine dissoziative Störung, spalten die Erinnerung an einzelne belastende Erlebnisse oder ganze Teile ihrer Persönlichkeit, die mit diesen Erlebnissen verbunden sind, ab. Symptome reichen von Amnesie über Wahrnehmungs- und Empfindungsstörungen bis hin zu Krampfanfällen und Lähmungserscheinungen. Bei Kriegsveteranen trete diese Form der Nebenwirkung häufiger auf, sagt Smoski – „einfach, weil der Grad der Traumatisierung und die Schwere der psychischen Verletzungen häufig größer ist“.

Eine weitere Dynamik: Patienten entwickeln eine pathologische Anhänglichkeit an ihren Therapeuten, meinen irgendwann, nicht mehr ohne Therapie leben zu können. „Das nennt man dann Therapieabhängigkeit“, sagt Linden. Und betont: Es sei Aufgabe des Therapeuten, mit dem Patienten einen Weg aus der Behandlungsschleife zu finden.

Patienten kommen auf den Egotrip

Auch Gruppentherapien bergen ihre eigenen Risiken, erklärt Linden. Patienten hören die bisweilen dramatischen Geschichten anderer, doch statt aus dem geteilten Leid Kraft zu schöpfen, fühlen sie sich demoralisiert. „Da besteht eine Art Ansteckungsgefahr,“ so Linden.

Bei manchen Patienten führt eine psychotherapeutische Behandlung auch zu einem Egotrip. So lernen sie während der Therapie – häufig zum ersten Mal in ihrem Leben –, auf die eigenen Bedürfnisse achtzugeben. In dem Buch „Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie“, das Michael Linden mit herausgegeben hat, beschreiben Experten Patienten, die nach einer Therapie so sehr auf sich selbst bezogen waren, dass sie eine „inadäquate Lebensbewältigung am Arbeitsplatz und zu Hause“ an den Tag legten. Sie trennten sich vom Partner, kündigten den Job, brachen Kontakt zu Familie und Freunden ab; entwickelten also Züge einer narzisstischen Persönlichkeit.

Wie bei jeder Behandlung, so gibt es auch in der Psychotherapie Wechselwirkungen – zwischen der Psychotherapie und Medikamenten ebenso wie zwischen verschiedenen Therapieansätzen, sagt Smoski. So rate sie in Einzelfällen Angstpatienten davon ab, bei einer Panikattacke ein Beruhigungsmittel etwa aus der Familie der Benzodiazepine einzunehmen. „Weil es die Wirkung der Psychotherapie beeinflusst“, sagt sie. Mitunter ist dadurch das Gefühlsleben und Erinnernungsvermögen beeinträchtigt.

Bisweilen sei die Entscheidung für einen Therapieansatz nicht eindeutig zu treffen, sagt Smoski weiter. Sie erinnert sich an einen Patienten, den sie wegen posttraumatischer Belastung, Depressionen, Schlafstörungen und Medikamentenabhängigkeit behandelte. Sie entschied sich, mit der Schlaftherapie zu beginnen – „weil die Forschung nahelegt, dass die Behandlung von Schlafproblemen häufig zu einer erfolgreicheren Behandlung von Depressionen führt“.

Doch dann stellte sich heraus: Der Patient konnte nicht schlafen, weil ihn schwere Albträume plagten, resultierend aus seinem Trauma. „Ich hatte die falsche Reihenfolge gewählt – und habe mein Therapieprotokoll geändert“, sagt Smoski.

Therapeuten seien dafür verantwortlich, Patienten über mögliche Nebenwirkungen aufzuklären, diese im Verlauf der Therapie zu erkennen und die Behandlung entsprechend anzupassen, sagt Linden. Dabei ließen sich mit einiger Erfahrung schon beim Eingangsgespräch bestimmte Reaktionen voraussehen.

Wenn ein Patient zum Beispiel eine ängstlich-abhängige Persönlichkeit habe, werde er oder sie wahrscheinlich eine enge Bindung an den Therapeuten entwickeln. Wer eine Borderline-Persönlichkeitsstruktur aufweise, zu Impulsivität, Emotions- und Stimmungsschwankungen neige, sei empfänglich für falsche Erinnerungen. Und bei vegetativ instabilen Patienten, häufig sind dies Angstkranke, sei bei Expositionsbehandlungen besondere Vorsicht geboten.

Die größte Herausforderung in der Nebenwirkungsforschung sei die mangelhafte Datenlage, sagt Lynn Bufka, klinische Psychologin bei der American Psychological Association (APA), dem Fachverband der Psychologen in den USA. Bislang existierten kaum systematische Daten, die Aufschluss darüber gäben, „ob ein negativer Effekt Folge der Behandlung oder Symptom der zu behandelnden Krankheit ist“. Die APA verpflichtet seit 2018 Autoren dazu, in wissenschaftlichen Artikeln über Therapieverfahren deren potenzielle Risiken und Nebenwirkungen aufzuführen.

Bei aller notwendigen Forschungs- und Aufklärungsarbeit rät Psychotherapie-Professor Linden seinen Kollegen aber auch: „Man darf als Therapeut keine Angst vor Nebenwirkungen haben.“ Ein Mediziner habe schließlich keine Angst davor, ein Antibiotikum zu verschreiben, wenn der Nutzen größer ist als der mögliche Schaden. „Wer als Therapeut keine Nebenwirkungen erkennt, der hat sie vermutlich schlicht übersehen.“

©  WELT / Katja Ridderbusch