08. Mai 2022
Ein neues Medikament könnte die Schlafmedizin revolutionieren. Es wirkt spezifisch, macht nicht abhängig, und die Patienten haben am nächsten Tag keinen Hangover. Doch Ärzte sind nur vorsichtig optimistisch.
Von Katja Ridderbusch
Wenn Finn Owen, Feuerwehrmann und Notfallsanitäter in Atlanta, nach einer Zwölf-Stunden-Schicht nach Hause fährt, muss er achtgeben, dass ihm am Steuer nicht die Augen zufallen. Liegt er endlich im Bett, will der Schlaf nicht kommen: Dann suchen ihn die Bilder, Geräusche und Gerüche von Angst, Schmerz und Elend heim. Seit Jahren geht das so, und der ständige Wechsel zwischen Tag- und Nachtarbeit macht es nicht besser.
Gegen die Schlaflosigkeit hat er Joggen und Yoga ausprobiert, Kräutertees und Meditation, weißes Rauschen aus einer Handy-App – und an dienstfreien Tagen auch mal eine Schlaftablette. „Aber die hat nur mein Hirn verklebt.“ Viele seiner Kollegen kämpften gegen Schlaflosigkeit, sagt er, aber sprechen wolle so recht keiner darüber. Wegdrücken, aushalten, weitermachen, so laute die Regel in seiner Branche. Deshalb will er seinen richtigen Namen auch nicht veröffentlicht sehen.
Owen ist einer von 30 Millionen Amerikanern – knapp zehn Prozent der Gesamtbevölkerung –, die Umfragen der American Sleep Association zufolge unter Insomnie leiden, einer chronischen Einschlaf- und Durchschlafstörung. In Deutschland sind nach Erhebungen des Robert-Koch-Instituts etwa sechs Prozent von der schweren Schlafstörung betroffen. Die Covid-19-Pandemie hat die Schlafprobleme der Menschen noch verstärkt, zeigen aktuelle Studien. Und so könnte Insomnie schon bald eine der weltweit am häufigsten diagnostizierten Erkrankungen sein. In ihrem neuen internationalen Diagnoseschlüssel ICD-11, seit Anfang 2022 in Kraft, führt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Schlaf-wach-Störung sogar erstmals als eigenständige Erkrankung auf.
Doch für Insomnie-Geplagte gibt es einen Hoffnungsschimmer. Im Januar hat die US-Pharmaaufsicht FDA ein neuartiges Schlafmittel zugelassen. Das Mittel Quviviq (Daridorexant), ein sogenannter Orexin-Antagonist, ist seit Anfang Mai auf dem US-Markt. Der Hersteller Idorsia rührt kräftig die Werbetrommel – mit einer multimedialen Marketingkampagne, in der Schauspielerin Jennifer Aniston über ihre Schlaflosigkeit plaudert. Vor wenigen Tagen gab auch die EU-Kommission grünes Licht für Daridorexant.
Neuer Wirkmechanismus
Die Erwartungen in das neue Schlafmittel sind groß; die Ergebnisse von zwei umfassenden, klinischen Studien nach höchstem wissenschaftlichen Standard mit mehr als 1800 Probanden in 18 Ländern wurden im Fachblatt „Lancet Neurology“ veröffentlicht und sind vielversprechend. „Das neue Medikament ist eine Revolution“, sagt Dieter Kunz, Chefarzt der Klinik für Schlaf- und Chronomedizin am St.-Hedwig-Krankenhaus in Berlin, das zur Charité gehört. „Denn eigentlich ist es gar kein Schlafmittel.“ Ältere Schlafmedikamente wie Barbiturate und Benzodiazepine sowie die jüngeren sogenannten Z-Substanzen wie Zolpidem und Zopiclon wirken sedierend und ausschließlich symptomatisch. „Das sind im Kern Narkosemittel, die die Menschen ausknocken“, sagt Kunz.
Das neue Mittel hingegen hemme im Hypothalamus, der Schaltzentrale des Gehirns, die Produktion des „Wachhormons“ Orexin. Dadurch wird das Gehirn in die Lage versetzt, ausreichend und qualitativ guten Schlaf zu produzieren, erklärt Kunz.
An den Studien nahmen Erwachsene teil, deren Schlafstörungen bereits länger als drei Monate andauerten und häufiger als dreimal pro Woche auftraten. Die Forscher stoppten die Zeit, die die Probanden vom Löschen des Lichts bis zum Einschlafen brauchten, und wie lange sie in der Nacht insgesamt wach lagen. Nach einem und nach drei Monaten wurden die Messungen wiederholt. Selbst unter Einbeziehung der deutlichen Placebowirkung, die bei Studien zu Schlafmedikamenten typisch ist, zeigte der Einsatz von Daridorexant „verbesserte Schlafqualität … und verbesserte Funktionsfähigkeit am Tag“ – und zwar „mit einem positiven Sicherheitsprofil“, heißt es in dem Fachartikel.
Da das neue Medikament kein akutes Schlafmittel ist, setze die Wirkung nicht unmittelbar ein, betont Kunz, sondern erst nach einiger Zeit. Zunächst bemerkten die Probanden in den Studien eine Zunahme ihrer Leistungsfähigkeit. Ein wesentlicher Unterschied zu traditionellen Schlafmitteln, nach deren Einnahme sich Patienten am Morgen häufig zerschlagen fühlen – mit „verklebtem Hirn“, wie Feuerwehrmann Owen aus Atlanta das nennt.
Nicht aufzutreten scheinen ferner Gewöhnungen an das Mittel oder Abhängigkeit – eine häufige Begleiterscheinung von Benzodiazepinen wie Diazepam („Valium“) und Z-Substanzen. Auch ein Rebound-Effekt, das verstärkte Wiederauftreten von Symptomen nach Absetzen eines Arzneimittels, wurde bei Daridorexant bisher nicht beobachtet. Eine weitere Anschlussstudie mit rund 800 Patienten bestätigte die ersten Ergebnisse.
Die häufigsten Nebenwirkungen des Medikaments sind Kopfschmerzen sowie Nasen- und Rachenschleimhautentzündungen. In seltenen Fällen kann Daridorexant zu Halluzinationen führen und Depressionen und Selbstmordgedanken verstärken. Menschen mit psychischen Erkrankungen sollten sich deshalb „einer besonders sorgfältigen Untersuchung bei ihrem Arzt unterziehen, bevor sie das Medikament einnehmen“, warnt Michael Breus, Schlafmediziner, Buchautor und in den USA populär als „The Sleep Doctor“.
So wie Breus sind viele Schlafmediziner in den USA, abwartend optimistisch. Die Ergebnisse der Studien zu Daridorexant seien vielversprechend, sagt Jennifer Martin, klinische Psychologin an der University of California in Los Angeles. „Tatsache ist aber, dass wir einfach noch nicht genug darüber wissen.“ Auch die vorherige Generation von Schlafmitteln, insbesondere Ambien – in Deutschland als Zolpidem auf dem Markt –, war zunächst als ein Durchbruch in der medikamentösen Schlaftherapie gefeiert worden.
„Dann zeigte sich Jahre später, dass diese Medikamentengruppe ziemlich signifikante Sicherheitsmängel aufwies“, sagt Martin. Vor allem bei Frauen baut sich der Wirkstoff langsamer als angenommen im Körper ab, ihre Aufmerksamkeit war auch acht Stunden nach der Einnahme eingeschränkt, insbesondere beim Autofahren. Im Jahr 2013, 21 Jahre nach der Zulassung, forderte die US-Pharmaaufsicht FDA den Hersteller von Ambien auf, die empfohlene Dosierung für Frauen zu halbieren.
Generell gelten unter den meisten Schlafmedizinern nicht Medikamente, sondern Verhaltenstherapien als Behandlungsoption der ersten Wahl: Entspannungstechniken oder die Einhaltung einer Schlafroutine. Erst wenn das nicht hilft, setze er ein Medikament ein, sagt Schlafmediziner Breus. „Aber nur, wenn wir das Schlafmittel nutzen, um den Kreislauf der Insomnie zu durchbrechen – und gleichzeitig mit den Patienten an einem gesunden Schlafverhalten arbeiten.“ Wichtig sei außerdem eine klare Exit-Strategie, damit die Einnahme der Schlafpille nicht zur Gewohnheit werde.
Komplexe Ursachensuche
Mit Daridorexant werde die Palette von medikamentösen Insomnie-Therapien um ein wichtiges Instrument erweitert, sagt Breus. „Je mehr Optionen wir zur Behandlung von Insomnie haben, desto besser.“ Breus’ deutscher Kollege Dieter Kunz stimmt zu. Schließlich gebe es nicht nur die eine Insomnie, sondern viele verschiedene Arten von Insomnien, die unterschiedliche Ursachen hätten und unterschiedlich behandelt werden müssten – seien es Wechseljahrbeschwerden, Schilddrüsenerkrankungen oder chronische Schmerzen.
Häufig jedoch lassen sich Krankheit und Symptom nicht eindeutig zuordnen. „Da stellt sich die Frage: Ist die Insomnie eine Folge einer Depression, oder ist die Depression Folge einer Insomnie?“, sagt Kunz. Falls sich keine klar diagnostizierbare Ursache finden lasse, würde der Berliner Schlafmediziner durchaus Daridorexant einsetzen – in der Hoffnung, dass es wirkt. Ein solches Trial-and-Error-Prinzip sei zu verantworten, weil die neue Wirkstoffklasse nach bisherigen Erkenntnissen nicht die gefährlichen Nebenwirkungen der älteren Schlafmittel aufweise.
Kunz hofft zudem, dass die WHO-Klassifizierung dafür sorgt, dass Schlafmedikamente ihr Stigma verlieren. Verhaltenstherapien wirkten bisweilen nur bedingt, sagt er. „Und wenn die Menschen dann zu Schlafmedikamenten greifen, werden sie in eine Art Schmuddelecke abgeschoben. Und das ist zynisch.“
Das neue Medikament könnte zudem ein Türöffner für weiter gehende Forschung in der Schlafmedizin sein, sagt Kunz, „sodass wir irgendwann die gesamte Bandbreite von Schlafstörungen angemessen behandeln können, mit mehr spezifischen Schlafmitteln statt mit symptomatischen Narkosemitteln“.
Finn Owen, der Feuerwehrmann und Notfallsanitäter aus Atlanta, will auf Medikamente gegen seine Schlaflosigkeit lieber verzichten. Sein Arzt würde ihm Daridorexant zwar verschreiben. „Aber ich warte lieber noch eine Weile ab“, sagt er und hebt abwehrend beide Hände. In der Zwischenzeit will er weiter auf Sport, Meditation und Kräuter setzen. „Oder ich muss mir einen anderen Job suchen – ohne Stress, ohne Schichtdienst.“
© WELT / Katja Ridderbusch