8. November 2022

Welche Rolle spielt der christliche Nationalismus bei den Midterms in den USA? Ein Gespräch mit dem Theologen David Gushee

Katja Ridderbusch · Religion an der Wahlurne: Christlicher Nationalismus im US-Wahlkampf

Von Katja Ridderbusch

Auch Jesus sei beschimpft und verspottet worden, sagte Kari Lake, Kandidatin der Republikaner für das Amt des Gouverneurs in Arizona, bei einer Wahlkampfveranstaltung. In Georgia rief die rechte Abgeordnete Marjorie Taylor Greene die Bürger dazu auf, sich zum christlichen Nationalismus zu bekennen. Und in Florida tönte Gouverneur Ron DeSantis, die Wähler sollten sich mit Gott rüsten gegen Angriffe aus dem linken Lager.

In den Monaten vor den Midterm Elections, den sogenannten Halbzeitwahlen in den USA, trieb religiöse Rhetorik neue und teilweise bizarre Blüten. Und nicht nur die Rhetorik.

Bereits im Präsidentschaftswahlkampf 2020 spielte Religion eine prominente politische Rolle: sei es die katholische Konfession des heutigen Präsidenten Joe Biden oder der Einfluss der evangelikalen Christen als machtvoller Wählerblock.

„I’m even more astonished in the year 2022 than I was two years ago because if anything, the malady has gotten worse.”

Tatsächlich sei sein Erstaunen heute noch größer als vor zwei Jahren, sagt David Gushee, evangelischer Theologe und Professor für christliche Ethik an der Mercer University in Atlanta. Und die Malaise der christlichen Glaubensgemeinschaften sei noch schlimmer.

Die Polarisierung von Politik und Gesellschaft setze sich fort, und auch die Gräben quer durch die religiöse Landschaft der USA würden immer tiefer, sagt er. 

Der dominierende Trend ist der weiße Christliche Nationalismus. Eine Bewegung, die von den Rändern in die Mitte gerückt ist, die einhergeht mit dem Aufstieg des ultrakonservativen Flügels der Republikanischen Partei. 

„In Zeiten von politischer Unruhe fungiert christlicher Nationalismus als ein kulturelles Rahmenwerk“, sagt Andrew Whitehead, Soziologe an der Indiana University im US-Rundfunk NPR. „Für die Anhänger dieser Ideologie stehen in einer christlichen Nation weiße, in den USA geborene Amerikaner an der Spitze der sozialen Hierarchie. Christlicher Nationalismus ist traditionellen Werten und Geschlechterrollen verhaftet, er propagiert autoritäre Herrschaftsstrukturen – ausgehend von der Annahme: Die Welt ist ein chaotischer Ort, und es braucht es eine harte Hand, bisweilen auch Gewalt, um die Ordnung zu bewahren oder wiederherzustellen. All das wird legitimiert durch einen sakralen Überbau.“

Viele Forscher sind sich einig: Es handelt sich um eine Ideologie, die im Kern verfassungswidrig ist, weil sie gegen die strikte Trennung von Kirche und Staat verstößt. 

Eine Ideologie, die jedoch in den USA keinesfalls als abwegig angesehen wird. Einer aktuellen Umfrage der Universität von Maryland zufolge würden 38 Prozent der Amerikaner die offizielle Ausrufung einer christlichen Nation befürworten, und 61 Prozent der republikanischen Wähler.

Das sei beängstigend, sagt der protestantische Theologe David Gushee. Christlicher Extremismus nehme in verschiedenen Denominationen zu, von Evangelikalen bis zu Katholiken. Die Ursprünge lägen lange vor Donald Trump, beginnend mit dem Aufstieg des christlichen Fundamentalismus in den 1920er Jahren.

„Besonders relevant waren die 1960er und 1970er Jahre mit all ihren sozialen Umbrüchen, die das Land und auch die Glaubensgemeinschaften gespalten haben – die Bürgerrechtsbewegung, die sexuelle Revolution, die kritische Auseinandersetzung mit dem Patriotismus im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg,“ sagt Gushee.

Ende der 1970er Jahre formierte sich die christliche Rechte um den Fernsehprediger Jerry Falwell. Auf den wiedergeborenen Christen George W. Bush folgte Barack Obama im höchsten Amt des Landes – der erste schwarze Präsident der USA. Obamas Präsidentschaft habe viele konservative weiße Christen weiter nach rechts getrieben, sagt Gushee, habe den Weg frei gemacht für einen kaum verhüllten Rassismus – und für die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016.

„Aber es wäre zu einfach zu sagen, Trump hat nur entlarvt, was schon immer da war“, sagt Gushee. „Trump hat auch Millionen von amerikanischen Christen zu seinen Jüngern gemacht, und er hat die Republikanische Partei nach seinem Bild umgestaltet.

Verantwortlich für die Misere des amerikanischen Christentums seien Trump selbst sowie seine Gefolgsleute unter Kirchenführern und Gläubigen, sagt der Theologe.

Eigentlich solle der christliche Glaube Antikörper gegen einen moralischen Kollaps produzieren. Aber die seien nicht stark genug gewesen gegen dieses spirituelle Covid-Virus.

Auch im Wahlkampf der vergangenen Wochen hatten fast alle der großen umstrittenen Themen laute religiöse Begleitmusik.

Da war die Entscheidung des Obersten Gerichtshof vom Juni, das seit fast 50 Jahren bestehende Recht auf Abtreibung – bekannt unter dem Namen Roe versus Wade – zu kippen. Das Urteil machte Abtreibung zu einem Spitzenthema in der Wahlkampfschlacht.

Auch die Frage der illegalen Einwanderung befördert politische und religiöse Lagerbildung. 

Weiteres heißes Wahlkampfthema: Waffenkontrolle. In den USA sind mehr Feuerwaffen im Umlauf als es Menschen gibt. Die Non-Profit Organisation „Gun Violence Archive“ zählt in diesem Jahr bislang mehr als 580 Massenschießereien – und immer wieder geraten auch Kirchen und Synagogen ins Visier.

„Wir haben ein Gift, das uns tötet“, sagt Gushee. „Kinder, Gläubige, ganz normale Leute. Und unser Gegenmittel für das Gift ist: mehr Gift. Das ist abartig, das ist eines der abartigsten Dinge in unserer Gesellschaft.“

Zwar rufen zahlreiche Glaubensgemeinschaften quer durch das politische und theologische Spektrum zu strengerer Waffenkontrolle auf. Doch zugleich treibt sie die praktische Sorge um ihre Sicherheit. Und die führt dazu, dass immer mehr Kirchen und Synagogen auf bewaffneten Schutz setzen, sei es durch die Polizei, private Sicherheitsdienste, oder Pastoren mit Pistolen.

Über den aktuellen Wahlkampf und die Midterms hinaus sieht Gushee die amerikanische Demokratie - wenn nicht in Lebensgefahr, so doch unter extremem Druck. Der Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021, an dem auch weiße christliche Nationalisten beteiligt waren, habe einen Vorgeschmack auf das gegeben, was kommen könnte.

„Ich fürchte nicht unbedingt, dass es einen Bürgerkrieg gibt“, sagt Gushee. „Aber mehr politische Gewalt liegt in jedem Fall der Luft. Ich fürchte, dass mehr konservative Christen den Schritt vom Kulturkampf zu physischer Gewalt gehen werden, weil sie glauben, dass die Feinde Gottes und Amerikas ansonsten das Zepter übernehmen.

David Gushee versteht sich selbst als evangelikal – aber als liberal evangelikal. Und er redet nicht nur über konservative Theologen und Gläubige, sondern auch mit ihnen. In diesen Gesprächen höre er immer öfter die Frage, ob die Demokratie es überhaupt wert sei, gerettet zu werden. Er beobachtet ein gefährliches Spiel mit der Idee, eine Art christliche Autokratie in den USA zu errichten. Doch dagegen, so Gushee, habe sich sein Land ganz klar entschieden – und zwar mit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 1789.

© Deutschlandfunk / Katja Ridderbusch