11. Mai 2022
Eine Baptistengemeinde in Atlanta hat ehemaligen Geflüchteten aus aller Welt eine neue Heimat gegeben. Mit dem Krieg in der Ukraine kehren bei ihnen dunkle Erinnerungen zurück – aber auch der tiefe Wunsch zu helfen.
Von Katja Ridderbusch
Ein Freitagnachmittag in der Kindertagesstätte der First Baptist Church of Decatur, einer progressiven Baptistengemeinde in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia. Irena Seferovic sitzt auf dem Fußboden, umringt von Kindern zwischen zwei und fünf – ein Bild, ein bisschen wie eine Szene aus der Sesamstraße.
Seit 23 Jahren arbeitet Seferovic – braunes welliges Haar und skeptischer Blick – als Erzieherin in der Kindertagesstätte, die hier Vorschule heißt. Ab Juni wird sie die Leiterin sein. Sie erinnert sich noch genau an die Zeit, als sie hier anfing.
„Ich sprach kein Englisch“, sagt sie. „Ich konnte gerade einmal „Hi“ sagen, und ich wusste, dass die Worte für Sohn und Sonne gleich klingen, aber unterschiedlich geschrieben werden.“ Aber sie habe trotzdem einen Job bekommen, das sei ein großes Glück gewesen. „Ja, dies ist meine Familie.“
Irena Seferovic ist bosnische Kroatin, Katholikin, verheiratet mit einem Muslim. Als der Krieg 1992 begann, floh sie mit ihrem Mann und zwei Kindern nach Deutschland. Sie lebten sieben Jahre in der Nähe von Frankfurt. Dann mussten sie zurück, aber ihr altes Haus war besetzt.
Ukraine-Krieg bringt dunkle Erinnerungen zurück
Sie erfuhren von einem Programm der US-Regierung für Balkanflüchtlinge, das kurz vor dem Auslaufen stand. Die Familie bewarb sich – und konnte 1999 in die USA einreisen. Sie kamen nach Clarkston, einer Kleinstadt nahe Atlanta mit einem hohen Anteil an Flüchtlingen.
Der Krieg in der Ukraine, die Bilder von Zerstörung, Tod, Angst und Flucht, bringen für Seferovic dunkle Erinnerungen zurück. Und nicht nur für sie. Gut ein Drittel der Lehrerinnen, die in der Vorschule der First Baptist Church arbeiten, sind ehemalige Geflüchtete.
David Jordan ist leitender Pastor der Gemeinde. „Unsere Kirche setzt sich traditionell mit Fragen von Akzeptanz, Vielfalt und Identität auseinander“, sagt er. Die Vorschule biete die Chance, eine Gemeinschaft aus Geflüchteten zu schaffen. Irena war die Erste, die vor Jahren hier anfing, ganz ohne Englisch. Jetzt wird sie die Vorschule leiten. „Der Kreis hat sich auf wunderbare Weise geschlossen“, so Jordan.
Die Erzieherinnen kommen aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Afghanistan, Pakistan, Indien und Sudan. Sie gehören verschiedenen Glaubenstraditionen an – römisch-katholisch, christlich orthodox, muslimisch, Hindu. Viele haben ihren Glauben auf ihrer Irrfahrt auch verloren.
Bitteres Erwachen in den USA
An diesem Nachmittag versammeln sich einige der Lehrerinnen im großen Altarraum der Kirche, mit hoher Decke, grünem Teppichboden und weißen Holzbänken. Durch ihre Erzählungen hallt das Echo von kaum verheilten Traumata, sie kämpfen sich durch die Tränen. Für Irena Seferovic und ihre Familie war der Start in der Neuen Welt ernüchternd.
„Es war ein bitteres Erwachen in den USA“, erinnert sie sich. „Wir mussten erfahren, dass Gewalt, vor allem Rassenkonflikte sehr lebendig sind.“ Dort, wo sie zuerst wohnten, gab es jede Nacht Schießereien – „und ich habe wachgelegen und gebetet, dass ich am nächsten Morgen noch weiß, wer ich bin, woher ich komme“.
Ihr Mann, der in den Jahren des Krieges und der Vertreibung nie verzagt oder verzweifelt war, fiel in eine tiefe Depression. Die Familie zog in einen anderen Stadtteil, und Seferovic – die in Bosnien als Modedesignerin gearbeitet hatte – bekam den Job in der Vorschule, ein Anker in der Fremde.
Maliha Mohseni kam 2003 mit ihrem Mann und drei Kindern in die USA. Sie stammt aus Kabul, Afghanistan, und sie kennt ihr Land nur im Krieg.
Mohseni – schweres blauschwarzes Haar und feine Gesichtszüge – heiratete mit 21 und begann mit 25 eine Odyssee durch die Welt. Von Afghanistan nach Pakistan, von Pakistan in den Iran und vom Iran nach Aserbaidschan. Der Krieg habe ihr eigenes Leben in Trümmer gelegt, sagt sie, aber ihren Kindern sollte es besser gehen.
Der Glaube geht oft verloren
Schließlich bewarb sich die Familie um ein Flüchtlingsvisum für die USA. Sie bekamen einen Interviewtermin in der US-Botschaft – am 11. September 2001. Das Interview wurde abgesagt, und es dauerte noch einmal drei Jahre, bis Mohseni mit ihrer Familie in den USA ankam. Sie lebten zuerst in Louisiana, zogen dann nach Georgia. Hier habe sie ein zu Hause gefunden, sagt sie. Religiös ist sie nicht schon lange nicht mehr. Sie wurde im muslimischen Glauben erzogen, aber das spiele für sie keine Rolle.
Borjanka Dogic verließ ihre Heimatstadt in der Republika Srpska – wo bis heute mehrheitlich bosnische Serben leben – im Jahr 1993, lebte fünf Jahre in Köln und kam 1998 nach Atlanta. Sie und ihr Mann waren fest entschlossen, den amerikanischen Traum zu leben. Beide hatten mehrere Jobs gleichzeitig. Dogic, drahtig und hochgewachsen, arbeitete in der Krankenhausverwaltung der Emory-Universitätsklinik und nebenbei in der Vorschule.
„Nach drei Jahren konnten wir ein Haus kaufen“, sagt sie. Sie und ihr Mann wollten die Hypothek so schnell wie möglich abbezahlen. Sie hätten viele Jahre sehr hart gearbeitet, seien gute und zuverlässige Arbeiter gewese. „Jetzt ist unser Haus schuldenfrei, und wir können endlich etwas durchatmen.“
Die beiden Töchter sind längst erwachsen und erfolgreich. Die eine arbeitet als Lehrerin, die andere als Finanzanalystin.
In diesen Tagen verfolgen Dogic und ihr Mann fast rund um die Uhr die Nachrichten aus der Ukraine. Und suchen eine Möglichkeit, zurückzugeben. „Vor 24 Jahren, als ich in den USA ankam, war ich diejenige, die Hilfe brauchte“, sagt sie. Jetzt könne sie helfen – „finanziell, oder auch indem wir eine Familie bei uns zu Hause aufnehmen“.
Bereit für Geflüchtete aus der Ukraine
Die First Baptist Church of Decatur ist seit Beginn des Krieges in der Ukraine-Hilfe engagiert, sagt Pastor David Jordan. Steht in engem Kontakt mit einer Gemeinde in Winnyzja, gut 200 Kilometer Luftlinie südwestlich der Hauptstadt Kiew. Deren Pastor war vor Jahren als Austauschschüler in Atlanta und besuchte die Baptistenkirche.
Präsident Joe Biden kündigte an, dass die USA bis zu 100.000 Menschen aus der Ukraine aufnehmen werden. Einige dürften auch nach Atlanta kommen – und durch die Türen seiner Kirche und der Vorschule, sagt Jordan. „Viele von ihnen werden wieder nach Hause zurückkehren, sobald sie können. Aber wenn sie bleiben wollen, macht das unser Leben nur reicher. Wir sind jedenfalls vorbereitet, was auch immer passiert.“
Irena Seferovic kann zusätzliche Hilfe in der Vorschule gut gebrauchen, und sie freut sich über jede interessante Bewerbung, sagt sie – auch und vor allem von Geflüchteten aus der Ukraine.
© Deutschlandfunk / Katja Ridderbusch