08. August 2022
Mehr als 350 Massenschießereien haben die USA in diesem Jahr bereits erlebt. Das Massaker an einer Grundschule in Uvalde legte massive Probleme bei Kommunikation und Koordination der Polizei offen. In einem Trainingszentrum in Georgia sollen Cops auf den Ernstfall vorbereitet werden. WELT war dabei.
Von Katja Ridderbusch
„Go, go, go!“ Ausbilder Eric Phillips und John Henson jagen Gruppen von jeweils drei bis fünf Polizisten durch einen langen Gang, vorbei an Türen, einige offen, andere geschlossen. Die Männer und Frauen bewegen sich in Formation, schnell und leise. Sie tragen schwarze Poloshirts und beige Cargohosen, halten Pistolen aus orangenem Plastik im Anschlag – hüpfende Farbflecke gegen graue Wände.
Hier, in einem fensterlosen Flachbau auf dem 400 Hektar großen Gelände des Trainingszentrums für Polizei und Feuerwehr im US-Bundesstaat Georgia, üben an diesem Nachmittag zwei Dutzend Cops für einen Active-Shooter-Einsatz: einen Amoklauf in einer Schule, einer Kirche, einem Bürogebäude, einer Shopping-Mall.
Ereignisse, die zum traurigen Alltag in Amerika geworden sind. Der Non-Profit Organisation Gun Violence Archive zufolge gab es in diesem Jahr bislang mehr als 350 Massenschießereien – definiert als ein Ereignis, bei dem vier oder mehr Menschen getötet werden.
Die Sonne, die an diesem Julitag hell, heiß und schwer am Himmel über Georgia hängt, bleibt ausgesperrt in dem heruntergekühlten Betongebäude. Die Polizisten, die hier trainieren, kommen aus verschiedenen Teilen des Bundesstaates, aus verschiedenen Einheiten und Behörden, aus Städten oder vom Land, aus Revieren mit mehr als 1000 oder weniger als zehn Beamten.
Ein realistisches Szenario, erklären die Ausbilder. Denn bei einem Active-Shooter-Notruf strömen sämtliche verfügbaren Polizisten aus der Umgebung an den Tatort. „Ziel unseres Trainings ist es, dass alle Teilnehmer die gleichen taktischen Fertigkeiten erlernen, um bei einem Active-Shooter-Einsatz schnell und effizient zu reagieren“, sagt Phillips, ein kräftiger Mann mit grauem Ziegenbart. Dass alle die gleiche Sprache sprechen, auch wenn sie vorher noch nie miteinander gearbeitet haben. „Ohne Verwirrung, ohne Fehlkommunikation.“
Columbine leitete Paradigmenwechsel ein
Das Prinzip sei einfach, setzt Co-Trainer Henson hinzu: „Stop the killing, stop the dying.“ Das Töten stoppen, das Sterben stoppen. Einfach – in der Theorie. Doch die Praxis sieht bisweilen anders aus. Wie beim Amoklauf in der Robb Elementary School in Uvalde, einer Kleinstadt nahe San Antonio in Texas, wo am 24. Mai 19 Kinder und zwei Lehrer starben, eines der schwersten Schulmassaker in der Geschichte der USA.
Ein vorläufiger Bericht des Repräsentantenhauses von Texas kam jetzt zu dem Ergebnis: Beim Polizeieinsatz in Uvalde gab es massive Probleme bei Führung, Kommunikation und Koordination. Diese hätten zu „einem kompletten Systemversagen und einer Reihung schlechter Entscheidungen“ geführt.
376 Polizisten aus kommunalen, einzel- und bundesstaatlichen Behörden eilten an jenem Tag zum Einsatzort, aber es dauerte 73 Minuten, bis Mitglieder einer Spezialeinheit den Amokschützen schließlich stoppten. Weitere Untersuchungen laufen, mehr Berichte werden folgen, aber die meisten Sicherheitsexperten sind sich einig: Der Polizeieinsatz von Uvalde ignorierte alle gängigen Standards und Protokolle für Massenschießereien in den USA. Protokolle, die seit mehr als 20 Jahren in Kraft sind.
Es war das Schulmassaker an der Highschool von Columbine (Colorado) im April 1999, das einen Paradigmenwechsel für die Strategie der Polizei bei Amokläufen einleitete. Bis dahin waren Streifenpolizisten, die meist als Erste an einem Active-Shooter-Tatort eintrafen, angehalten, das Gelände zu sichern und auf die Ankunft von SWAT-Teams, Spezialeinsatzkommandos, zu warten. Doch dabei ging kostbare Zeit verloren, in der mehr Menschen starben.
„Seit Columbine sollen die Polizisten, die als Erste eintreffen, egal, welcher Einheit sie angehören, sich sofort in Richtung der abgegebenen Schüsse bewegen“, sagt Pete Blair, Professor für Strafjustiz und Direktor des ALERRT (Advanced Law Enforcement Rapid Response Training) Center an der Texas State University, „entweder in kleinen Gruppen oder notfalls allein.“
ALERRT entwickelte 2002 in Kooperation mit dem FBI ein Trainingsprotokoll für Active-Shooter-Einsätze, das mittlerweile als Standard bei den meisten der rund 18.000 Polizeibehörden in den USA gilt. „Es geht darum, so schnell wie möglich den Schützen zu stoppen und dann Erste Hilfe zu leisten“, sagt Blair. Stop the killing, stop the dying.
Die Nachfrage ist seit Uvalde stark gestiegen
Am anderen Ende des Georgia Public Safety Training Center – oder kurz: GPSTC, so der offizielle Name des Trainingsgeländes – sitzen in einem großen Konferenzraum 85 School Resource Officers – Polizisten, die während des Schuljahres von ihren Behörden zum festen Einsatz in örtlichen Schulen oder Schulbezirken entsandt werden. Einige tragen Uniform mit Polizeimarke oder Sheriffstern, andere Militärhosen und Baseball-Caps, wenige sind in zivil.
Seit Uvalde sei die Nachfrage für den einwöchigen Kurs – bei dem neben Jugendstrafrecht und Psychologie auch Kommunikation und Pädagogik auf dem Lehrplan stehen – stark gestiegen, sagt Danielle Rosa, die das Ausbildungsprogramm für die Schulpolizisten leitet. „Normalerweise trainieren wir etwa 200 Cops pro Jahr. 2022 werden es doppelt so viele sein.“
Überall in den USA wollen Schulen die Sicherheit auf ihrem Gelände mithilfe der Polizei verstärken. Aber es gehe nicht nur um konkreten physischen Schutz, betont Rosa, eine drahtige Frau mit einer Stimme voll Energie. „Die Rolle von Schulpolizisten ist genau das, was der Name sagt: Sie sind eine Ressource – für die Kids, für die Lehrer, für die Verwaltung, für die Gemeinde.“ Vor allem für Kinder aus weniger privilegierten Familien sei die Schule oft der einzig sichere Ort, fügt die Ausbilderin hinzu.
Auch lernten Schulpolizisten die Kinder über längere Zeit kennen, sie hätten die Chance, früh zu bemerken, wenn Kinder in eine Krise abglitten – Drogen, Gangs, Isolation, Gewalt. „Wir wollen möglichst proaktiv sein“, sagt Rosa. Und wenn dennoch der schlimmste Fall eintrete – ein Amoklauf –, dann seien Schulpolizisten bereits am Einsatzort.
Deputy Tracy Holder und Deputy Brittany Hollman – beide arbeiten bei kleineren Behörden im Süden und Norden von Georgia – sind seit knapp einem Jahr Schulpolizistinnen. Beide haben sich die Position nicht ausgesucht. Holder übernahm den Job auf Bitten des örtlichen Sheriffs. Hollman war zuvor als Streifenpolizistin tätig, aber als sie ein Baby bekam, waren Schichtdienste keine Option mehr. „Ich wollte erst nicht wechseln, aber jetzt liebe ich die Arbeit“, sagt sie.
Schul-Cop zu sein habe lange ein Stigma gehabt, setzt Holder hinzu. Schulpolizisten, das waren bessere Sicherheitsleute. Cops ohne den Staub, den Schweiß und Stress der Straße, keine echten Cops. „Wir galten als nicht relevant.“
Massaker wie der jüngste Amoklauf in Uvalde hätten – leider – deutlich gemacht, „dass Schulpolizisten gebraucht werden. Dass wir eine wichtige Rolle spielen“, sagt Holder. Auch in Uvalde waren Polizisten des Schulbezirks unter den Ersten, die die Schule betraten – aber als der Schütze durch eine der Türen auf die Cops feuerte, zogen sie sich zurück und warteten auf Unterstützung.
Die Vorbereitung auf Amokläufe hat indes auch eine zivile Komponente. Überall im Land bieten örtliche Polizeibehörden regelmäßig Active-Shooter-Kurse für normale Bürger an, für Mitarbeiter von Schulen, Unternehmen, Kirchen, Behörden. „Unmittelbar nach einer Massenschießerei haben wir ein garantiert volles Haus“, sagt Major Oliver Fladrich von der Polizei in Dunwoody, einem Vorort von Atlanta. „Und dann versickert das Interesse wieder. Bis zum nächsten Mal. “
Nach Columbine propagierten Active-Shooter-Drills zunächst das Motto: run, hide, fight – weglaufen, verstecken, kämpfen. Heute lautet das Mantra: avoid, deny, defend. Soll heißen: Man solle den Ort des Geschehens meiden, das Gebäude oder Gelände beim Geräusch der ersten Schüsse sofort verlassen, erklärt Fladrich.
Wenn das nicht möglich sei, solle man dem Amokläufer den Zutritt verwehren, zum Beispiel, indem man Türen verbarrikadiere. Und wenn auch das nicht funktioniert, gelte es, sich mit allen möglichen Mitteln zu verteidigen – mit Händen und Füßen, mit Feuerlöschern, Stühlen, Büchern, Kugelschreibern.
„Zivilisten sind nicht komplett wehrlos – auch nicht gegenüber einem Schützen mit Sturmgewehr“, sagt Fladrich, der seit drei Jahrzehnten als Cop in den USA arbeitet. Es gibt einige wenige Fälle, bei denen Zivilisten Amokschützen überwältigt haben. Doch die 19 Kinder und zwei Lehrer in Uvalde hatten keine Chance, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Was auch immer beim Polizeieinsatz in Uvalde falsch gelaufen ist – am Trainingszentrum in Georgia hoffen die Ausbilder Eric Phillips und John Henson, dass alle Polizisten – ganz egal, ob Schul-, Streifen- oder Kriminalpolizisten – künftig häufiger und intensiver für Amokläufe trainieren. „Zwei Tage einmal im Jahr, das reicht nicht“, sagt Phillips.
Aber selbst das beste Training sei nur ein Teil der Lösung, setzt der Ex-Cop hinzu. Polizisten müssten bereit sein einzugreifen, den Schützen zu konfrontieren, schnell und ohne Furcht um die eigene Sicherheit. „Niemand wird gezwungen, diesen Job zu machen.“
Ein Job, der mit dem Risiko kommt, im Einsatz verletzt oder auch getötet zu werden. Sein Team versuche, Polizisten beim Active-Shooter-Training das praktische und mentale Handwerkszeug zu vermitteln, sagt Phillips. „Aber am Ende können wir nur Taktik trainieren. Mut lässt sich nicht üben.“
© WELT / Katja Ridderbusch